AUF DER SUCHE NACH EINER VERLORENEN WELT, TEIL 2: JAPAN
erschienen im Purpose Magazin
Der Traum vom Reisen in der weiten Welt wurde noch ganz anders Wirklichkeit, als unser Autor (geboren 1927) jung war. Seine Berichte laden uns ein, eine verlorene Welt wiederzuentdecken. Der zweite führt uns nach Japan im Jahr 1983.
Hier erfahren Sie mehr über:
- Blicke in Moskau
- Anblicke in Tokyo und Kyoto
- Reise nach Japan 1983
TEXT: Wolfgang Eckstein
Wolfgang Eckstein ist 97 Jahre jung. Der Jurist war u.a. Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Bekleidungsindustrie, gründete den Verband deutscher Modedesigner, den Modekreis München und eine Stiftung für die Modeindustrie. Für PURPOSE schreibt er exklusiv. www.wolfgangeckstein.eu
Zwei Stunden bis zum Abflug. Auf’s Bett legen, in die Luft starren und vor sich hinträumen. Mein Blick gleitet von der Decke zur Wand und dann zum gegenüberliegenden Haus. Alles nur wenige Meter entfernt. Aus dieser begrenzten Enge werde ich bald meinen Gedanken, die längst am anderen Ende der Welt sind, folgen; und hoffentlich wieder glücklich zurückkehren in die mir vertraute Welt, wie eine Seele, die den Körper vorübergehend verlässt, um einmal im weiten Bogen über den Himmel zu wandern.
Der Winter gibt eine Abschiedsvorstellung. Sturmböen und Schneeschauer fegen über die Landebahn. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz besetzt. 446 Schicksale, sorgfältig „verstaut“ im gewaltigen Rumpf des Jumbo-Jets. Dawai, Dawai – auf geht’s in Richtung Moskau.
MOSKAU MIT NUTELLA
Kaum zwei Stunden später sitzen wir im modernen Flughafen der russischen Hauptstadt, der in seiner Gestaltung jedem internationalen Vergleich standhält. Uniformierte Bewacher an jeder Ecke – selbst beim Verladen der Toilettenabfälle. Stoisch lassen sie die westlichen Kapitalisten an sich vorüberziehen. Wichtigste Feststellung im Einkaufszentrum: Nutella – originalverpackt – und sonst nur Kitsch.
Russinnen, in viel zu enge Uniformen gepresst, würdigen uns keines Blickes. Nach zwei Stunden Aufenthalt Weiterflug nach Japan. Das Ural-Gebirge, Grenze zwischen Europa und Asien, zieht unter uns vorbei. Die unendliche Weite des nördlichen Sibiriens breitet sich tiefverschneit aus. Stunde für Stunde, immer das gleiche Bild. Eine völlig menschenleere Landschaft unter einer graufahlen Schneedecke. Unwillkürlich denkt man an Gefangenenlager, in denen viele Tausende, von der übrigen Welt abgeschnitten, dahinsiechen.
Vielleicht schauen manche sehnsuchtsvoll in den Himmel und träumen von der Freiheit, die für uns so selbstverständlich ist und uns erlaubt – je nach Belieben – Länder und Kontinente zu überspringen.
Wir fliegen in 12.000 m Höhe – bei einer Außentemperatur von minus 60 Grad. Ein vorzügliches Abendessen wird serviert. Schon bricht die Nacht herein; es wird eine sehr kurze. Nach drei Stunden – es ist gerade 21.00 Uhr – bereits wieder die Morgenröte. Die Sonne steigt auf aus der sibirischen Einöde und verwandelt die trostlose Ebene in eine rötlich schimmernde Samtdecke.
Über die nördliche Mongolei hinweg erreichen wir Wladiwostok. Dann ein Sprung über das Meer, vorbei an Korea. Nach einem ausgiebigen Frühstück, Landung in Tokyo. 11 Stunden, bei einer Geschwindigkeit von 1000 km/h, nur über russisches Gebiet. Man erschrickt förmlich, wenn man sich der gewaltigen Ausmaße dieses Landes bewusst wird. Auf die Minute genau, um 7.54 Uhr am Morgen, sind wir eingetroffen – ein erstes Beispiel für japanische Präzision und zur Einstimmung auf dieses Land der aufgehenden Sonne. Dann folgt die zweite Überraschung: Die Ankunftshalle ist erfüllt mit wunderschöner Musik von Joseph Haydn.
MIT MANDELAUGEN SIEHT MAN ANDERS
Scharfe Blicke aus schrägen Augen mustern uns wortlos – Gesundheitspolizisten, die optische Diagnosen stellen. Wehe, wenn man gerade einen Hustenanfall bekommt, Pickel im Gesicht hat oder vielleicht zu blass aussieht.
Sofort muss man seine Gesundheit unter Beweis stellen. Während ich zur Passkontrolle anstehe, schaue ich mir die Abflugtafel an. Sie zeigt deutlich, welchen Schnittpunkt der Welt Tokyo darstellt. Abflüge nach London, Moskau, San Francisco, New York, Sydney, Frankfurt/Main, Vancouver, Rio – in alle Kontinente der Erde. Schon hier fällt mir die unglaubliche Sauberkeit auf, über die ich später noch oft staune.
Vorerst geht es mit dem Bus in die Stadt. Eine Fahrt durch Häuserschluchten und Tunnel, über Brücken und Kanäle – ein Labyrinth, das kein Ende nimmt. Aber bald wird diese Art Fluggasttransport vorbei sein. Eine Schnellbahn, die auf einem Hochgleis dahinrast, sieht ihrer Fertigstellung entgegen.
Die Natur hat bereits ihr zartgrünes Blätterkleid angelegt. Die Apfel- und Pfirsichbäume stehen in voller Blüte. Die Welt ertrinkt in Kirschblüten. Die Jahreszeiten haben in Japan seit Jahrhunderten zu poetischen Entfaltungen angeregt. Immer sind es Beschwörungen des Augenblicks und der Vergänglichkeit. Gefühle, die auch mich als Fremden streicheln beim Anblick dieses Blütenmeers, das so beneidenswert schön ist, bevor es der Lauf des Jahres auslöscht.
Plötzlich liegt „Schloss Neuschwanstein“ am Wegrand. Eine Kopie des amerikanischen Disneyland, das bald eröffnet wird. Warum soll Japan nicht auch ein Disney-Land haben? Also wurde innerhalb von drei Jahren für rund 1,2 Mrd DM eines aus dem Boden gestampft – mit allem Drum und Dran.
Tiefe Verbeugung der Empfangsdamen im Hotel. Von diesem Moment an begleitet mich japanische Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und menschliche Achtung jede Minute. Hotelhalle und Restaurant sind erfüllt mit fernöstlicher Emsigkeit. Höflichkeit ist hier das Öl im Getriebe der menschlichen Gemeinschaft. Überrascht bin ich von der gediegenen und gepflegten Kleidung. Angefangen beim Hotelpersonal bis zu den jüngsten Gästen. Korrekte Anzüge, schneeweiße Hemden und modische Krawatten – überwiegend dunkelblau und dunkelgrau. Die Frauen und Mädchen in klassischen Kostümen und schicken Blusen. Im Untergeschoß ist eine elegante Boutique-Straße eingerichtet. Überall bekannte Namen: Dior, Hermes, Yves St. Laurent etc. Dazu Namen internationaler Kosmetikfirmen.
Die Verkäuferinnen in allen Geschäften – ohne Ausnahme – tragen dunkelblaue, gutsitzende Kostüme sowie ein gepflegtes Make-up. Sie bestechen durch ihr dezentes, zuvorkommendes Auftreten. Das Preisniveau des Angebotenen ist allerdings entsprechend. Wie zufällig ausgestellt unter anderen Waren, ein Ring für DM 350.000.- .
Am Abend wimmelt es von Abendkleidern, Smokings, Fracks und Cutaways. Die Vielzahl von Brautkleidern allerdings macht mich stutzig. Ergebnis meiner Nachforschungen: Heute finden 14 Hochzeiten statt. Das wird eine aufregende Nacht. Es ist nicht immer der Wind, wenn die Wände wackeln.
… UND ALLE IM SONNTAGSSTAAT
Am nächsten Morgen warte ich auf ein Taxi; es gibt davon 40.000, die – wie in New York – pausenlos fahren und keinen festen Standplatz haben. Da sehe ich Gäste, die ihre Regenschirme in skiständerähnliche Gestelle außerhalb des Hotels einschließen. Es sind ungefähr 450 solcher Schirmständer – ein kurioser Anblick. Neben dem absoluten Rauchverbot im Taxi fällt mir auf, dass alle Sitze mit blütenweißen, stickereiähnlichen Überzügen ausgestattet sind, die täglich gewechselt werden. Der Fahrer trägt weiße Handschuhe, eine weiße Mütze und äußerst korrekte Kleidung.
Bei den Privatchauffeuren kann man kleidungsmäßig nicht unterscheiden, ob es sich um den Fahrer oder um den Direktor handelt. Weil ich schon bei der Kleidung bin, noch ein Wort dazu: Das Kleidungsbewusstsein der Japaner ist derart hoch, dass ich mich fast etwas schäme, wenn ich an Deutschland denke. In Japan gibt es keinen einzigen Menschen, der nicht ordentlich angezogen ist. Es kommt mir so vor, als ob alle Leute ihren Sonntagsstaat angelegt hätten.
Dabei entwickeln die Japaner noch einen Farbensinn, den ich ihnen nicht zugetraut hätte. Wie sie das alles machen, ist mir schleierhaft, denn die Preise sind unglaublich, dreimal so hoch wie in Deutschland. Dazu kommen noch die hohen Mieten. Ein 1-Zimmer-Appartement liegt bei monatlich etwa DM 1.000.-, eine schöne große Wohnung in guter Lage kostet ca. DM 8.000.- Ganz besonders spannend ist es, eine Grillparty zu veranstalten, denn 1 Kilo Rindfleisch kostet stolze DM 200.- Entsprechend sind die Preise in den Restaurants.
LOVE-HOTELS MIT PLÜSCHKOMFORT
Trotzdem, die Japaner leben, genießen und geben das Geld leicht aus. Besonders dann, wenn es auf Firmenspesen geht. Der größte Lustgewinn dabei ist sicher der Besuch eines Love-Hotels auf Geschäftskosten. Da viele japanische Ehepaare keine Privatsphäre kennen, flüchten sie gerne in solche Hotels mit Plüschkomfort. Wie man sich bettet, so liegt man dann, weich und zu zweit in Muschel und Sphinx, in Moon-Shuttle, Auto, Kutsche, mit Las Vegas-Stil oder in Schloss-Architektur.
Es lohnt sich ja auch nicht, viel zu verdienen, da die Spitzensteuer bei 76 % liegt. So bemüht sich jeder, möglichst viele Spesen zu machen. Man hat mir gesagt, dass die gesamten Spareinlagen in Japan insgesamt nur (in DM 600 Mio.) betragen gegenüber denen von Deutschland mit DM 524 Mrd.
GESCHENKE FÜR ALLE!
Ist man einmal Gast in Japan, so bleibt man Gast, ohne die Möglichkeit zu haben, irgendwann irgendwo irgendetwas zu bezahlen. Alles ist bereits beglichen: Taxi, Hotel, usw.. Eine wunderschöne Sitte ist es, sich bei allen Gelegenheiten kleine Geschenke zu machen. Man erwartet sie sogar. Von einem Japaner in sein eigenes Haus zum Essen eingeladen zu werden, bedeutet die höchste Ehre für einen Gast und kommt kaum vor. So streng sind hier die Bräuche.
Bevor man überhaupt ein erstes Wort miteinander redet, werden Visitenkarten ausgetauscht. Ohne eine solche ist man nichts. Es gibt überhaupt so viele Eigenheiten in Japan, die man kennen muss und die einen immer wieder überraschen. Niemand nimmt oder erwartet Trinkgeld. Die Männer werden grundsätzlich zuerst bedient. Getränke schenkt man sich nicht selbst ein, sondern hält das Glas hoch und irgendjemand gießt ein.
Altpapier wird gesammelt, dafür bekommt man dann Toilettenpapier. So werden ca. 80 % davon aus Altpapier gewonnen. Die Restaurants lassen alle Menüs der Speisenkarte naturgetreu nachbilden und stellen sie in Vitrinen aus, damit der Gast gleich weiß, wie sein Essen aussieht. Angeblich liegt dem Ganzen eine staatliche Anordnung zugrunde. Bewohner, die auf Inseln leben und die normalen Schriftzeichen nicht beherrschen, können dadurch ihr Essen leichter bestellen.
ZEICHEN, MELODIEN UND ANDERE SIGNALE
Die Schreibmaschinen haben 1.800 Schriftzeichen statt Buchstaben. Wie so etwas wirklich funktioniert, ist für mich ein Rätsel geblieben. Mit 10-Finger-System ist es sicher nicht getan.
In den Kaufhäusern gibt es nicht etwa – wie bei uns – eine zentrale Musikberieselung; unverständlicherweise hat jede einzelne Abteilung ihr eigenes Musikprogramm. So hört man gleichzeitig 5 bis 10 verschiedene Melodien in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Nach 30 Minuten weiß man nicht mehr, was man eigentlich kauft.
Praktisch dagegen fand ich, dass Autos beim Zurückfahren automatisch ein Signal auslösen, das die Fußgänger warnt.
Das Familienleben ist auch etwas eigenartig. Hauptsache die Haushaltskasse stimmt, dann kann der Mann tun und lassen, was er will. Schuldgefühle kennen die japanischen Männer nicht. Sie gehen alleine aus, genießen alle Vergnügungen, die sich in Massagesalons, Teehäusern, Liebeshotels und bei sonstigen Gelegenheiten bieten. Sie verreisen mit der Freundin oder auch alleine. Das junge Mädchen versucht, möglichst reich zu heiraten. Ein absolutes Versorgungsdenken herrscht vor. Man bemüht sich allerdings, eine gute Ausbildung zu haben, zumindest aber eine gute Schule – mit oder ohne Erfolg – zu besuchen als Voraussetzung dafür, sich einen reichen Mann zu angeln.
ÄSTHETIK UND ETHIK
Alles in allem, die Japaner sind trotz ihrer Eigenheiten ein eigenartiges, aber liebenswertes Volk. Es ist wohltuend, mit ihnen zusammenzutreffen. Ästhetik und Ethik haben hier vor allem Vorrang. Soviel Sauberkeit und Ordnung gibt es nirgends auf der Welt. Die gegenseitige Achtung der Menschen ist überall zu spüren. Dies zeigt sich besonders in allseits bekannten, tiefen Verbeugungen. Eine Achtungsbezeugung, nicht die eines Dieners vor dem Herrn, sondern vor dem Menschen. Jeder verbeugt sich vor jedem, ganz gleich welchen Standes und welchen Alters. Auch ganz junge Menschen tauschen diese demütige Geste aus. Die Kinder lernen ihren Diener zu machen, noch bevor sie laufen können, eine Bereitschaft, sich gegenseitig zu dienen, die uns längst verlorengegangen ist.
Damit verbunden ist Ehrlichkeit, die jedes Betrügen und Bestehlen ausschließt. Man kann im Hotel – ohne die geringsten Bedenken – alles offen liegenlassen. Diese geistige Reinheit ist mit der körperlichen Sauberkeit eng verbunden. Jeder Japaner – bis hinunter zum einfachsten Arbeiter – badet jeden Abend ausgiebig. Gleichzeitig wird sämtliche Wäsche und Kleidung gewechselt. Im Zeichen der steigenden Energiekosten tragen fast alle Häuser Solarheizungen auf den Dächern. Man lässt so die Sonne das reichlich benötigte Warmwasser aufbereiten. Baden ist Passion – heute leistet sich jeder dritte Japaner wenigstens einmal im Jahr eine Badereise.
ROBOTIK UND DAS IDEAL DER KLEINEN SCHRITTE
Die moderne Technik wird – wie ich es erwartet hatte – in vollem Umfang genutzt, aber nicht so unbegrenzt, dass sie selbst zum Handikap würde. Sie wird nur so weit entwickelt, dass sie dem Menschen das Leben leichter macht. Der Roboter ist des Japaners liebstes Kind. Alles funktionell bis zu den kleinsten Dingen des Alltags. In diesen Tagen konnte ich nicht einen Fall feststellen, bei dem man hätte noch eine Verbesserung anbringen können. Der Gedanke, die Technik sei ein Teufelswerk, ist den Japanern fremd. Es ist einfach fantastisch, man kommt sich vor wie in einer Welt der Zukunft. Die Japaner sind kein außergewöhnlich kreatives Volk. Aber sie verstehen es, Vorhandenes auf unglaubliche Art zur Perfektion zu entwickeln. Im Einklang mit sich und der Umwelt pflegen sie die Tradition und dienen zugleich dem Fortschritt.
Das japanische Ideal ist das der kleinen Schritte. Man möchte, dass alle vorausschreiten. Man verlangt vom Individuum Rücksicht auf die Gruppe. Niemand soll so weit nach vorne preschen, dass andere das Gefühl bekommen, aussichtslos in Rückstand zu geraten. Man fühlt sich unwohl, wenn man der Grund für einen Konflikt ist. Man schämt sich, wenn man Unrecht tut und auf Unrecht beharrt. Man schämt sich auch, wenn man die Gefühle anderer verletzt.
Was sie dagegen nicht können, ist mit Fremden umzugehen. Den besten Beweis dafür hat man mir selbst geliefert. Als ich in einen kleinen Laden gehe, verschwindet der Verkäufer bei meinem Anblick in die hinterste Ecke. Erst nachdem ich mehrmals energisch nach einer Bedienung rufe, kommt er mit vielen Verbeugungen scheu hervor und fragt mich höflich nach meinem Wunsch. Dieser Vorgang ist typisch für Japaner und man erlebt ihn immer wieder. Sie haben einen ausgeprägten Fremdenkomplex, der auch nur ganz allmählich dadurch abgebaut wird, dass immer mehr Japaner ins Ausland fahren.
IM SHINKANSEN NACH KYOTO
Nach Japan fliegen, ohne die Kaiserstadt Kyoto zu besuchen, wäre ein großes Versäumnis. Auf dem Weg dahin nicht den berühmten Shinkansenzug zu benutzen, wäre kein geringerer Fehler. Es ist ja auch alles zu einfach. Man reserviert sich einen Sitzplatz und alle Probleme sind gelöst. Auf dem Bahnsteig ist genau an der richtigen Stelle am Boden die Wagennummer aufgemalt. Ein Schritt vorwärts und ich sitze auf dem richtigen Platz, drehe den Sitz zum Fenster und lasse den Landschaftsfilm ablaufen. Die Polster sind äußerst bequem und in jeder Lage verstellbar. Auch hier blitzsaubere Überzüge für Kopf und Rücken.
Der Zug sieht aus wie eine Rakete. Die Beschleunigung ist so stark, dass es einen in die Sitze drückt. Nach kurzer Zeit ist die Höchstgeschwindigkeit von 220 km/h erreicht. Geplant ist übrigens ein neuer Zug auf Magnetbasis mit 500 km/h Geschwindigkeit. Geschäftsleute beherrschen das Bild in den Abteilen. Herren, die, wenn sie nicht gerade einen Drink nehmen, Akten auf den Knien tragen, Bilanzen und Kostenvoranschläge, Prospekte und Baupläne studieren. Japanische Manager eben – immer im Dienst. Laufend werden Getränke, Fertiggerichte und Gebäck angeboten.
Doch viel interessanter ist, was draußen vorbeifliegt. Wasserüberflutete Reisfelder, die überall angelegt werden, wo nicht Hügel und Berge sind, denn davon gibt es genug in Japan. Da wieder, wurstähnlich, rundgeschnittene Teeplantagen, daneben Mandarinen-, Kirsch- und Apfelbaumgärten. Ab und zu durchrasen wir einen Tunnel. Der Luftdruck ist dann so groß, dass sich die Decke des Wagens um einige Zentimeter senkt und es in allen Fugen beängstigend knistert – so auch in meinen Ohren.
‚Entlang der ganzen Strecke von 600 km ist das Land besiedelt, um nicht zu sagen zersiedelt, mit Ortschaften und Industrieanlagen. Es scheint, als ob ganz Japan an dieser Eisenbahnlinie wohnt. Nach drei Stunden ist eine Entfernung von München nach Köln zurückgelegt. Die alte Kaiserstadt öffnet weit ihre Tore und gibt den Blick frei in die Vergangenheit Japans. An europäischen Verhältnissen gemessen, dauert sie noch gar nicht so lange. Der Kaiserpalast wurde im 16. Jahrhundert gebaut und noch heute sind die alten Traditionen rund um den Kaiser von Japan wie in alten Zeiten lebendig.
ERDBEBENVORSORGE UND EINE BEGEGNUNG MIT GREGORY PECK
Bei der Besichtigung der Paläste drängt sich unwillkürlich ein Vergleich mit bayerischen Schlössern auf. Hier der überladene Prunk, nicht nur an den Wänden und Decken, sondern auch bei den Möbeln, dort die völlig leeren Räume, nur ausgelegt mit Strohmatten und abgeteilt mit Pappwänden. Interessant, die damaligen Alarmanlagen in Form von „singenden Böden„. Auch auf Strümpfen konnte man nicht über die Gänge gehen, ohne dass ein warnendes Vogelgezwitscher ertönte. Das Geheimnis sind die Nägel, die zwischen den Bodenbrettern angebracht sind. Sie reiben sich am Holz und erzeugen dadurch diese eigenartigen Laute. Selbst mit Fensterln ist da nichts zu machen und zum Stehlen gibt es ja sowieso nichts.
Wieder zurück in der 90 km langen Hauptstadt, die heute 10 Mio Einwohner beherbergt, das sind 10 % der gesamten Bevölkerung Japans. Keine Wolkenkratzermetropole, denn es sind nur Gebäude mit höchstens 30 Stockwerken erlaubt. Eine Vorsorgemaßnahme für Erdbeben. Man kann sich nicht vorstellen, dass dieses winzige Japan 3.000 km lang ist und alle Klimazonen durchschneidet. Im Norden liegt Japans „Wilder Westen“. Die Insel Hokkaido ist doppelt so groß wie die Schweiz und olympisch erprobtes Skigebiet, das von 6-7 Mio Skifahrern bevölkert wird.
Im Süden ziehen sich herrlich lange Stände entlang der Küsten. Es sind Landschaften wie vom Skagerrak bis Mallorca. Vom spröden Reiz Norwegens bis zur taumelnden Lieblichkeit spanischer Küsten.
In der Hotelhalle begegnet mir ganz unbefangen der große, alte Mann des amerikanischen Films, Gregory Peck. Grüßt mich, wie ganz selbstverständlich und posiert für ein Foto. Später tobt eine wilde Gruppe in die Bar. Der amerikanische Sänger Barry Manilow hat mit einem erfolgreichen Konzert die Japaner an diesem Abend begeistert. Der amerikanische Botschafter Mansfield veranstaltet für seinen umjubelten Landsmann einen Empfang. Jetzt wird der Erfolg nachgefeiert. Später gesellt sich noch der Sänger Adamo mit seiner Gruppe dazu.
INTERNATIONALES PARKETT IN TOKYO
Am nächsten Abend gibt der deutsche Botschafter einen Empfang für deutsche Gäste, Diplomaten und Industrielle. Es wird ein Zusammensein, wie ich es nicht erwartet habe. So ganz „undiplomatisch“ und ungezwungen, aufgelockert und unbeschwert. Die Exzellenzen geben sich leutselig. Der spanische Botschafter erzählt mir hinter vorgehaltener Hand intime Geschichten aus Marokko. Die Frau des Gesandten vertraut mir an, wie gerne sie einmal ausflippen möchte.
Die Angetraute eines japanischen Konzernpräsidenten wünscht sich – mit einem Augenzwinkern – einen Deutschen als Schwiegersohn, weil ihr Sohn doch auch schon eine Deutsche hat. „But you know, Japan is a land of great traditions“. Doch einen Gefallen muss ich ihr tun: Am nächsten Tag mit ihr und ihrem Mann an einem original japanischen Essen „Shabu Shabu“ teilnehmen. Warum auch nicht? Die Zeremonie findet im Schneidersitz statt, der mir als Berufsstellung nicht schwerfällt. Dann läuft eine Haute Couture-Show für den Gaumen ab. Auf einer Unmenge kleiner, vielförmiger Schalen, Teller und Tabletts werden jeweils nur kleine Häppchen Fisch, Geflügel und Fleischgerichte, Suppen mit Lotosblüten, blauweiße Scheibchen roher Fische, zu Rosenblüten geformt, auf edlem Porzellan in zartem Türkis gereicht. Alles kommt in künstlerischer Verkleidung auf den Tisch, zu Landschaften oder Tiergestalten geformt. Japans Küche ist vor allem eine Anrichteschule.
Alle diese Köstlichkeiten werden bis zum Umfallen dargeboten, was auch tatsächlich passiert. Um 21.00 Uhr fallen dem Präsidenten die Augen zu und mir fast die blutleeren Beine ab. Dem strengen japanischen Abend folgt eine Einladung besonderer Art. Der berühmte und berüchtigte amerikanische Mannequin-Agent Casablanca hat zu einer Präsentation ins größte Hotel geladen und lässt sich dabei nicht lumpen. Mit einem protzigen Buffet hat er alle angelockt, die an Mädchen interessiert sind. Entsprechend gemischt, aber auch optisch interessant ist das Publikum. Mit heißer Musik und modischen Effekten stellt sich dann vor, was der „Mädchenhändler“ aufgetrieben hat. Er verspricht, auch in Japan „gute Qualität“ anzubieten. Zeigt her eure Beine – „die blanca casa lacht“.
Eine andere Perspektive dieser Stadt der Städte – ein Titel, den Tokyo niemand nehmen kann. Was sich hier in 24 Stunden abspielt und zwar auf allen Gebieten der Wirtschaft und Kultur, findet man nirgendwo auf der Welt. Der Rahmen stimmt einfach und zwar nur deswegen, weil die Menschen verstehen, ihn zu gestalten. Die Insellage hat Japan zwar die Isolation gebracht, es aber in den Status der Unantastbarkeit einer von der Welt losgelösten eigenen Welt versetzt. So konnte sich das Vorhandene erhalten und es gewährt nur zögernd Fremdem Zutritt.
ENTSPANNUNG IM BADEHAUS UND DANN: ABFLUG!
Was könnte ich kurz vor einem 26-Stunden-Flug besseres tun, als in eines auf der ganzen Welt bekannten Bäder zu gehen. Man nennt sie jetzt ganz nüchtern Gesundheitszentren. Davon gibt es allerdings sehr unterschiedliche, was ihre Ausstattung betrifft. Für manche muss man als Aufnahmegebühr für eine Mitgliedschaft DM 50.000.- hinblättern. Dazu kommt dann noch jährlich ein Beitrag von mehreren tausend Mark. Jedenfalls lasse ich mich so richtig durchkneten. Die Sauna trägt ein Übriges dazu bei, damit ich fit werde. Für den, der noch mehr wissen möchte: Es geht sehr züchtig zu in diesen Badehäusern. Man zeigt sich kaum nackt und massiert wird durch aufgelegte Frottiertücher hindurch, so dass man den Körper nicht direkt berührt.
Als mich der große Vogel der Japanese Airline Richtung Nordpol davonträgt, schmilzt das Land der aufgehenden Sonne zu einem kleinen Fleck im weiten Pazifik zusammen.
Es sind die Tage der Kirschblüte und ein unberührtes Weiß bedeckt das Land. Jetzt ist die Zeit der großen Feste und ausgelassenen Feiern, bei denen ich mich so gerne wiedergefunden hätte.
KAVIER UND DANN IN DIE ARKTIS
Entlang der russischen Ostküste nimmt die Maschine in tiefschwarzer Nacht Kurs auf Anchorage in Alaska. Dann sind wir bereits 6.000 km von Tokyo entfernt. Es war nur wenige Stunden dunkel. Zwischenlandung in früher Morgenstunde. Schnell ein paar Dosen Kaviar einkaufen. Ein flüchtiges Zusammentreffen mit Bekannten, die auf dem Weg nach Japan sind. Schon geht es weiter und bald liegt die nördlichste Stadt Amerikas hinter uns. Die Arktis mit ihrem ewigen Eis und ihrer unberührten Weite kommt in Sicht. Eine Landschaft, die so fantastisch und unwirklich ist, dass man sie kaum mit Worten beschreiben kann, sondern die nur mit der Landschaft eines fernen Planeten zu vergleichen ist.
Grenzenlose Einsamkeit über mächtigen Gebirgszügen mit sonnenüberglänzten Gletschern. Abgrundtiefe Schluchten und weite Täler, in denen tiefgefrorene, grünschimmernde Flüsse eingelegt sind. Dann schiebt sich das Massiv des größten Berges heran. Der Mount Kinley – ein Sechstausender – grüßt in Erhabenheit zu uns herüber.
Ein zweiter Jet fliegt auf gleichem Kurs und begleitet uns für mehrere tausend Kilometer. In der Nähe des Nordpols erleben wir die zweite Nacht dieses Tages; aber auch nur für einige Stunden. Zwischenstop in Hamburg und Frankfurt – dann hat die Heimat mich wieder.
Eine deutschsprachige Zeitung hätte ich mir besser nicht gleich kaufen sollen. Du liebe Güte, es scheint, als ob es nichts Wichtigeres und Weltbewegenderes gibt, als die deutschen Probleme und Erkenntnisse.
Durch Mandelaugen betrachtet sehen die Dinge oft etwas sonderbar und unbrauchbar aus. Dann wirken Deutschland und die Deutschen wie „der eingebildete Kranke„. Meine Augenform hat sich auf dieser Reise zwar nicht verändert, aber mein Blick wurde zu neuen Dimensionen geweitet. Es ist doch manchmal gut, etwas von draußen zu sehen. Japan ist dafür ein guter Standort – dafür lohnt es sich aber auch, einmal um die Welt zu fliegen.
Seit seiner Kindheit ist unser Autor (geboren 1927) vom Reisen fasziniert. Er malte sich aus, wohin die Wolken wohl wandern und wünschte sich, er könnte mit ihnen davonsegeln. Seine grenzenlose Sehnsucht war, Kontinente zu überspringen, die Erde zu umkreisen und die Vielfalt der Länder zu erleben. Eines Tages, nach all den Wirren des Zweiten Weltkriegs, war es endlich soweit. Ein glücklicher Zufall gab ihm die Möglichkeit, in
40 Tagen, kurz bevor das Zeitalter des Jetfliegens begann, noch im niedrig fliegenden Propellerflugzeug und dadurch mit greifbar nahen Eindrücken, die Erdkugel über 52.000 Kilometer zu umrunden. Damit öffnete sich für ihn das Tor in die große weite Welt. Seine unvergesslichen Erlebnisse, beschreibt er in seinen Reiseberichten, die uns in eine verlorene Welt führen. Diese an der einen oder anderen Stelle wiederzuentdecken wäre sinnvoll, damit der Traum von einer besseren Welt, mit all ihren vielfältigen Wundern
und Menschen, wieder Wirklichkeit werden kann.
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